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Rakete - USA - Publikationen - Bücher/ Broschüren

Wernher von Braun. Visionär des Weltraums, Ingenieur des Krieges

von Michael Neufeld,  Siedler Verlag, München 2009, 687 Seiten, 49,95 €.

Rezension: Ralf Bülow, Kiel und Berlin

Seit Mai, zwei Jahre nach dem englischen Original und ein Jahrzehnt  nach seinem bekannten Buch über „Die Rakete und das Reich“, liegt die Wernher-von-Braun-Biographie des kanadischen Technikhistorikers Michael Neufeld in deutscher Sprache vor. Damit ist nach längerer Pause wieder eine dickleibige und faktengefüllte Lebensgeschichte des deutsch-amerikanischen Raketenpioniers erhältlich.
Neue grundlegende Erkenntnisse enthält das Werk nicht, und die Verwicklung Wernher von Brauns in die unmenschliche A4-Produktion im Mittelwerk wird schon seit den 1980er Jahren heiß und ausführlich diskutiert. Die Stärke des Autors liegt in der Aufarbeitung von verstreuten Details in der umfangreiche amerikanischen Archiven, und die Lektüre seines Buchs erspart dem Raumfahrt-Fan die Jagd nach schwer erreichbarer Primär- und Sekundärliteratur. So wusste der Rezensent nicht, dass von Braun eher zu den Ostpreußen als zu den Schlesiern gehört, und er erfuhr einiges zum Inhalt seines Zukunftsromans „Project Mars“, der 2006 in den USA in Druck erschien. Eine Herausgabe der deutschen Urfassung des Romans, die als Vorbild für „Menschen zwischen den Planeten“ von F. L. Neher diente, wäre sehr zu wünschen.
Das oben erwähnte Buch über „Die Rakete und das Reich“ bewies, wie pointiert Michael Neufeld die Beziehung Wernher von Brauns zu Institutionen, Organisationen und Personen der Nazi-Zeit sah. In der Biographie lässt er hier in der Regel Fairness walten: Er erwähnt selbstverständlich den Eintritt von Brauns in die NSDAP, „nichts deutet aber darauf hin, dass er mehr tat, als seine monatlichen Beiträge einzuzahlen“ (S. 123). Von Brauns Widerwillen gegen die Aufnahme in die SS hält Neufeld für „glaubwürdig“ (S. 152).
Über Wernher von Brauns Berührungen mit dem Mittelwerk kann Neufeld mit keinen neuen Quellen aufwarten, doch widmet er drei Seiten (S. 215-217) von Brauns Kontakt mit dem französischen Physik-Professor und KZ-Häftling Charles Sadron, dem er anscheinend einen besseren Arbeitsplatz verschaffen wollte. Neufeld hält es für möglich, dass er Sadron helfen wollte, besteht aber darauf, dass diese Aktion den Deutschen „tiefer“ (S. 217) in Verbrechen gegen die Menschlichkeit – im Sinne der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse – verwickelte.
„Wernher von Braun“ wäre eine verdienstvolle biographische Leistung, hätte sich Michael Neufeld mit seiner kritischen, doch durchweg objektiven Beurteilung des Engagements Wernher von Brauns für die Nazis begnügt. Dass Tausende von KZ-Häftlingen beim Bau der „Vergeltungswaffen“ starben, lässt sich ebenso wenig abstreiten wie die Tatsache, dass von Braun die Zustände im Mittelwerk, wo sein Bruder Magnus als Chemiker arbeitete, und im KZ Dora-Mittelbau bekannt waren. Leider entschloss sich Neufeld, die Beurteilung durch eine Verurteilung anzureichern, die das ganze Buch durchzieht und jedes Mal durch jähe Stilbrüche erkennbar ist.
Ich möchte auf eine philologische Analyse verzichten, sondern nur einige sprachliche Folgerungen aneinanderreihen, die an den jeweiligen Stellen aus dem Sachkontext heraus entwickelt werden:

„unverblümte Aussage amoralischen Opportunismus“ (S. 16, über von Brauns Aussage, 1932 für die Reichswehr zu arbeiten);
„gewisse Überheblichkeit… Arroganz… Hochmut“ (S. 54, über eine Arbeit des 17-jährigen);
„Tendenz zum amoralischen Opportunismus“ (S. 76, über Diskussionen im Verein für Raumschifffahrt);
„Gleichgültigkeit [gegenüber den Nazis]“ (S. 83, über von Brauns Geständnis, 1933 politisch „naiv“ gewesen zu sein);
„Seine konservative nationalistische Erziehung und seine Neigung zum apolitischen Opportunismus“ (S. 564, über den jungen Wernher von Braun);
„Sexist wie die meisten anderen Ingenieure damals“ (S.632, über von Brauns Überlegungen zur Astronauten-Auswahl 1958).
Gipfel von Neufelds Interpretation ist die These vom faustischen Pakt, den Wernher von Braun mit den Nazis bzw. den Amerikanern geschlossen haben soll, um seinen Traum vom Weltraumflug zu verwirklichen. Dieser Teufelsbund, den Neufeld ursprünglich für „Die Rakete und das Reich“ entwickelte, ist dadurch gekennzeichnet, dass sein Urheber davon keine Ahnung hat: „Alle Zeugnisse weisen jedoch darauf hin, dass [von Braun] sich bis weit in den Krieg hinein nicht einmal bewusst war, dass er einen solchen Pakt geschlossen hatte.“ (S. 564)
Fürwahr ein seltsamer Pakt, der irgendwie von selbst eintritt. Um es schärfer zu sagen: Die eher feuilletonistische Teufelspakt-Theorie verhindert gerade durch die gewollte oder ungewollte Dämonisierung von Brauns die kritische Beurteilung seiner Karriere und seines Verhaltens. Sie blockiert die Analyse der Kommandostrukturen in den diversen Projekten, welche Ziele erreicht werden sollten, wer die Befehle gab, wer ihnen gehorchen musste und wo noch Raum für steuernde Impulse blieb. Ein Opportunist nutzt andere aus, während Wernher von Braun nur zu gerne von anderen für ihre Ziele benutzt wurde.
Die Ironie von Neufelds Buch liegt darin, dass die Details, die das Buch überreichlich ausbreitet, vor allem eines zeigen: Wernher von Braun war ein genialer Ingenieur und Technikmanager, aber ein schlechter Karriereplaner. An entscheidenden Stellen seiner Laufbahn kam die Initiative von der Reichswehr, die ihn 1932 „entdeckte“, von der US Army, die nach dem Beginn des Koreakriegs 1950 den Bau der Redstone-Rakete anordnete, vom Magazin „Collier’s“, das 1951 eine visionäre Raumfahrt-Serie plante, oder vom Raumfahrtpublizisten Willy Ley, der 1954 die Walt-Disney-Studios auf von Braun hinwies.  
Wernher von Brauns Durchbruch erfolgte erst beim chaotischen Wettlauf mit der US-Marine um den Start des ersten amerikanischen Erdsatelliten Anfang 1958, und hier hatte er, wie man so schön sagt, mehr Glück als Verstand. Drei Jahre später, beim Entschluss der Kennedy-Regierung für ein Mondlande-Programm, war er eine Randfigur. Michael Neufeld: „Letztendlich war das, was von Braun vor allem zur Apollo-Entscheidung beitrug, die Glaubhaftigkeit bei der Frage nach der Leistung sowjetischer und amerikanische Booster. […] Seine Raumfahrtwerbung in den fünfziger Jahren trug auch dazu bei, dass die Idee, zum Mond zu reisen, in den sechziger Jahren als legitim angesehen wurde.“ (S. 433) Das klingt weder nach faustischem Pakt noch nach apolitischem Opportunismus. 
Am Ende der Rezension bleibt eine offene Frage, die auch die neue Biographie nicht beantwortet, die nach der Mitverantwortung Wernher von Brauns für die Untaten im Mittelwerk und dem KZ Dora-Mittelbau und nach dem Eingeständnis dieser Schuld. Neufeld beklagt mehr als einmal die spärlichen Äußerungen von Brauns zu den Tausenden von Opfern, doch sind solche Äußerungen eben doch überliefert, er selbst zitiert sie auf Seite 558 seines Buches („absolut grauenvoll“, „eine höllische Welt“). Im übrigen ist zu beachten, dass die KZ-Sklavenarbeit in Nordhausen westliche Historiker erst in den 1980er Jahren interessierte, als von Braun längst tot war. Zu Lebzeiten wurde er primär wegen der V2-Angriffe auf London attackiert!
Eine Lösung des offenen Problems wurde letztlich durch die Weigerung der Peenemünde-Deutschen verhindert, Neufeld nach früheren Oral-History-Interviews noch einmal Rede und Antwort zu stehen (S. 12). Wie es scheint, war nur der mittlerweile verstorbene Ernst Stuhlinger zu einer Kooperation bereit. Vielleicht kann ein weniger exponierter Raumfahrt-Historiker einmal bei jüngeren Weggefährten von Brauns eine erfolgreichere Recherche starten.
Trotz dieser Schwächen ist und bleibt „Wernher von Braun“ für die weitere Forschung unverzichtbar. In den hundert Seiten Anmerkungen und Quellen zu den historischen Zusammenhängen fehlen höchstens Christina von Brauns Buch „Stille Post“ (Berlin 2007) sowie „Die Lüge des Odysseus“ (Wiesbaden 1959) von Paul Rassinier, der zum ersten Mal einem breiten Publikum in Deutschland die Schrecken des Mittelwerks beschrieb. Die Weglassung Rassiniers mag Absicht gewesen sein; der Franzose war trotz KZ-Haft in Dora-Mittelbau ein ausgeprägter  Antisemit und Holocaust-Leugner, und vielleicht wollte Neufeld für ihn keine Reklame machen.
Die Übersetzung von Ilse Strasman ist durch die Bank zu loben. Mir fiel eine einzige grobe Unkorrektheit auf, die „Raketensonde“ (S. 265, 338); im Original stand wohl „sounding rocket“ (Höhenforschungsrakete). Kleine Fehler wie „Kontrolle“ für „control“ (Steuerung) und „Sozialisten“ statt „Sozialdemokraten“ sind im Übersetzerstress entschuldbar. Triebwerkstechnische Fehler, die auf das Konto von Michael Neufeld gehen, werden von anderer Seite beurteilt.