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Raketenerbe - Peenemünde

Peenemündes Erben

Der zweite Krieg, der von Deutschland aus die Welt erschütterte, ist vorbei. Durch die besetzten Zonen der Alliierten ziehen Flüchtlingstrecks um ein neues Zuhause zu finden und Arbeit zum Überleben anzunehmen. Auch die über sechstausend Raketenfachleute sind von ihren ausgelagerten Betrieben auf dem Weg, hoffend auf ihr altes Zuhause oder um Familienangehörige zu suchen. Die Enttäuschung, für „Volk und Vaterland“ durch Hitler verblendet worden zu sein, steckt tief. Nie wieder Raketen, nie wieder Waffen...
Doch die Alliierten machten regelrechte Jagd auf die Träger des technologischen Wissens der deutschen Wundertechnik, um das know how für ihr Land auszubeuten. Einmal in der jeweiligen Besatzungszone angelangt, war es für einen Spezialisten fast unmöglich, sie wieder zu verlassen, ohne seine Familie in Gefahr zu bringen:
„Wir hatten nach dem Krieg ... Zeithain vereinbart. Nach einiger Zeit war dort dann auch die Familie wieder beisammen. Bevor wir uns wieder in den Westen aufmachten, wollten wir nach den Eltern meiner Frau in Zinnowitz auf Usedom sehen. Nach einigen Tagen wurde ich von einem russischen Offizier aufgefordert, mich zur Arbeit bei einem Herrn Bethke zu melden. Das war dann der Beginn meiner Tätigkeit wieder in Peenemünde. Später in Bleicherode meldeten sich zwar die Franzosen, an eine Flucht war dann aber nicht mehr zu denken“ (Werner Baum; Kontrollingenieur des Heereswaffenamtes für das Gesamtgerät A4; später für 4 Jahre in die UdSSR verbracht; aus Brief an Dr. Przybilski vom 09.01.2001). Und man versuchte ganz offiziell, bekannte Personen abzuwerben: „Sie dürfen versichert sein, dass die Arbeitsbedingungen in jeder Hinsicht einwandfrei und tadellos sind. Sollte es möglich sein, dass Ihnen dieser Brief direkt überbracht wird, so bitte ich Sie, sich an den Überbringer zu wenden, der Ihnen mit Auskünften über eine Reisemöglichkeit nach hier zur Verfügung steht. Einer Zuzugsgenehmigung nach hier bedarf es nicht, es wird im ganzen gesehen das Beste sein, wenn Sie uns einen unverbindlichen Besuch abstatten, um sich durch einen Überblick über unsere Verhältnisse und unsere Arbeit eingehend zu informieren“ (Brief der Zentralwerke Bleicherode vom 03.07.1946 an Herrn Otto Kraehe, Landshut). Auf der Briefrückseite skizzierte der Briefüberbringer, da er die Zielperson nicht antraf, wie und wo er die Zonengrenze gefahrlos überschreiten könne.
Otto Kraehe war seit 1934 Mitarbeiter bei Wernher von Braun in Kummersdorf und wurde ab Oktober 1946 im französischen Waffenamt angestellt. Sein Freund Arthur Martin war nach Kriegsende in Bleicherode von den Russen für den Zusammenbau der A4 verantwortlich gemacht worden. Bei einer Dienstreise nach Berlin kehrte er nicht zurück und teilte Kraehe mit, dass er nicht nach Osten gehen solle, er würde etwas Besseres in Aussicht haben. Begründung:
„Die von den russischen Offizieren gestellten Termine sind nicht einzuhalten“ (Übermittlung von Otto Kraehe an Dr. Przybilski vom 10.11.1996).
Während die Russen „ihre Spezialisten“ unter Zwang und Waffenandrohung im Oktober 1946 in den abgeschotteten Osten verbrachten, boten im Vorfeld dieser Aktion die anderen drei alliierten Mächte „ihren Raketenexperten“ Arbeitsverträge an.
Nicht ohne Eigennutz – nach Plan „Morgenthau“ sollten Reparationszahlungen und personelle „Ausbeute“ der jeweiligen Siegermacht zu gute kommen. Je nach staatlicher „Neigung“ konnten die „Auserwählten“ weiterhin ihrer Tätigkeit nachgehen. Oder auch nicht. Professor Walter Wolman, Leiter der „Arbeitsgemeinschaft Vorhaben Peenemünde“ der TH Dresden, äußert sich zu den Tagen bei Kriegsende:
„Ich bin, bevor die Russen kamen, ganz kurz vorher, geflohen. Und zwar in meine Zielrichtung Stuttgart, meiner Heimat. Mit viel Glück – es lief gerade ein Militärtransportzug mit Unterlagen usw. mit einigen meiner Mitarbeiten, die mir und meiner Familie geholfen haben, nach Westen (und landete bei Kriegsende im amerikanischen Auffanglager auf der Fuchskaute). Wernher von Braun hätte mich dann ohne weiteres mitgenommen – ich wollte aber nicht. Die Amerikaner haben mich aber weiterhin unter Kontrolle gehalten, haben mir sogar Geld gegeben und hätten mich gerne mitgenommen. Damals wollte ich nicht. Und sie waren auch so anständig, dass sie mich nicht mit Zwang mitnahmen“ (Interview von Dr. Przybilski, 07.12.1998).
Die meisten arrangierten sich im Nachkriegsdeutschland, ein paar Hundert wollten weiter an Raketen arbeiten. Die Personal-Karten waren zufällig gemischt worden – die Zukunft sollte zeigen, wie die Karten stechen, was aus dem „Erbe von Peenemünde“ werden würde...

Anwerbungsbrief der Zentralwerke/ Bleicherode an Otto Kraehe/Landshut. Auf der Briefrückseite skizzierte der Briefüberbringer, da er die Zielperson nicht antraf, wie und wo er die Zonengrenze gefahrlos überschreiten könne.

Werner Baum (Jahrgang 1918): Nach Oberrealschule und Betriebspraktikum wurde er zum Waffeningenieur an der Heeresfachschule Berlin ausgebildet. Als Kontrollingenieur für das Gesamtgerät Aggregat 4 unterstanden ihm die Abnahmestellen im Mittelwerk, die Prüffelder in Lehesten, Ober-Raderach und Attnang-Puchheim. Nach dem Krieg wurde er über die „Zentralwerke“ für 4 Jahre in die UdSSR (Chimki) verbracht und legte dort mit seinen deutschen Mitarbeitern den raketentriebwerkstechnischen Grundstein für die sowjetischen Raumfahrterfolge.