Suche | Sitemap | Home

Gerät - Publikationen - Artikel / Leserbriefe

Das Erinnerungsvermögen von Tschertok

Ich hatte es nicht glauben wollen.
Nach meiner recht massiv geäußerten Kritik an Tschertok hier auf meiner Website (ich weiß, dass vieles von mir aus dem Deutschen ins Russische und Englische übersetzt wird und ich deshalb auch schon als „Nationalist“ verschrien bin <Danke, Herr Don P. Mitchell für diesen „Titel“!>), dachte ich zumindest, dass eine Änderung zumindest folgender Formulierung geschehen wird (Zitat Tschertok):

„Die Rakete R-11 trug im Unterschied zur R-1 und R-2  nicht die Muttermale der deutschen A4.“

So kann man es im Russischen im 1. Band auf S. 374 lesen und in der Übersetzung von Dr. Rudi Meier auf S. 426 in Deutsch. Dass das gröbster Unsinn ist, kann man hier weiter unten nachlesen. Doch genau die gleiche Formulierung erscheint nun sehr aktuell im 2. Band der amerikanischen Aussage im Kapitel 15 auf S. 266 (http://history.nasa.gov/SP-4110/vol2.pdf).

Es ist eine kritische Betrachtungsweise der Bücher und Veröffentlichungen von Tschertok sicher gestattet. In den Memoiren wird zwar das große Hintergrundwissen des Autors deutlich, doch ich erlaube mir hier einige grundlegende Bemerkungen zum folgenden Beitrag in "Raumfahrt Concret" vom Juni 1999, da mein "Leserbrief" damals nicht abgedruckt wurde. Auch die persönliche Entgegnung von Frau Prof. Ursula Gröttrup, der Tochter Helmut Gröttrups, die mit "Legenden aufräumt", wurde unverständlicherweise (?) nie veröffentlicht:

   
Raumfahrt Concret Juni 1999/ Entgegnung von Frau prof. Ursula Gröttrup
um obigen Artikel zu laden / lesen einfach auf nebenstehendes Logo klicken
(PDF, 1388 kByte)

Leserbrief zu „Kurs Peenemünde“, RC Juni 1999, Seiten 16/17
(Von der Redaktion nicht veröffentlicht...)

Boris Jewsejewitsch Tschertok hat scheinbar die Steuerungstechnik der sowjetischen Raketenentwicklung mit beeinflusst, so dass man zwar die Errungenschaften dieses Raketenpioniers anerkennen muss, aber seine Aussagen nicht kritiklos hinnehmen kann. Schon in seinem ersten Buch „Raketen und Menschen“ tauchten Fakten auf, die so nicht haltbar sind: Es ist ein Blick zurück - manches ist unvollständig dargestellt (schließlich war er ja nicht überall persönlich dabei), einiges unrichtig wiedergegeben (wie z.B. der Tod von Johannes Hoch oder die Flucht der Familie Gröttrup in den Westen) und noch Schlimmeres. Und da wird es kriminell, da Rezensoren und Unwissende hier in Deutschland die Ausführungen dieser Koryphäe Tschertok für bare Münze nehmen werden. Es ist bezeichnend für das eingeschränkte technische Verständnis von Journalisten und Historikern, wenn man sich über offizielle Verlautbarungen, geheimen Dokumenten und Memoiren der Frage nähern will, wie die „Erbschaft“ der deutschen Raketentechnik in der UdSSR angenommen wurde. So ist es zwar unstrittig, dass „die R11 keine Muttermale der A4 mehr trug“ (S. 374/russisch; S. 426/deutsch), doch ist diese Behauptung aus der Raketengenesis unsinnig und eines der vielen lancierten Halbwahrheiten des Boris Tschertok. Die R11 konnte kaum der A4 entsprungen sein, da sie der direkte Nachfahr der deutschen C2-Fliegerabwehrrakete war, die mehr unter dem Tarnnamen WASSERFALL bekannt wurde.“ (Zitat nach /1/). Wenn man nun noch weiß, dass daraus die landgestützte Rakete 8K14 wurde, im Westen besser bekannt als SCUD, und die Irakis damit eine flexible Terrorwaffe erhielten, nivelliert sich das alles wieder mit den „Muttermalen“.

Im Beitrag nun sind auf engstem Raum dermaßen viele Fehler, dass sie korrigiert werden müssen:

1) Schon zu Beginn des Artikels offenbaren sich Tschertoks Gedächtnislücken, wenn er bedauernd feststellt, dass in Peenemünde „alle Geräte ... bis zur letzten Schraube demontiert“ waren. Sein nachfolgender Satz infiltriert, dass die Deutschen alles bei der Verlagerung von Peenemünde in den „Mittelraum“ mitnahmen. Das aber ist falsch. Neben diversen Einzelteilen der A4 und Werkstattausrüstungen, die die Sowjetarmee vorfand, wurden die Peenemünder Prüfstände und sogar die unterirdischen Medienleitungen restlos erst von den sowjetischen Beuteguteinheiten demontiert /2/

2) In seine historische Fälschungen reiht sich die Äußerung über die „militärisch nicht hundertprozentig relevante Forschung in Peenemünde“ ein, wenn er die Story über die Entdeckung von Sängers Ausarbeitung zum Besten gibt. Diese Entwicklung hatte absolut nichts mit Peenemünde zu tun, sondern wurde von der „Flugzeugprüfstelle Trauen“ (Tarnname für das Braunschweiger Aninstitut) erarbeitet /3/. Dass Sänger dadurch nach dem Krieg in Todesgefahr geriet, negiert er völlig. Der Absatz über „andere Prozesse“ ist sicher durch schlechte Übersetzung total in die Hose gegangen (emulgierte Leichtmetall-Kohlenwasserstoff-Verbindungen; gleichstromiges Gerät...). Weiterhin scheint Tschertok heute noch nicht zu wissen, dass „Peenemünde“ aus zwei großen Forschungsinstitutionen bestand: Peenemünde West unter Leitung der Luftwaffe und der Heeresversuchsanstalt Peenemünde. Dort bei den „Fliegern“, wo für das „III. Reich“ die Me-163 oder die Fi-103 (V1) serienreif geflogen wurden, hätte sicher „Sänger“ entwickelt werden können und die „militärische Leitung des Heeres“ wäre nicht mal gefragt worden. Man muss dazu aber wissen, dass man in den letzten Kriegsjahren nur noch Projekte gestattete, die innerhalb kurzer Zeit „kriegsentscheidend“ waren. Natürlich war das Projekt seiner Zeit voraus. Aber doch nicht soweit, wie das beigefügte Bild der Redaktion veranschaulichen will: Außer dem Namen Sänger hat dieses Projekt nichts mit dem „deutschen Raumgleiter“ der vierziger Jahre gemein.

3) Die deutschen Spezialisten kehrten nicht alle in den Jahren 1953/54 nach Hause zurück - manche blieben sogar bis 1958 (Radar- und Steuerungsleute; siehe z.B. bei Kurt Berner /4/); die ersten verließen die UdSSR schon 1950.

4) Tschertoks Aussage „nach Hause“ verdeutlicht das Ziel der Spezialisten: beide deutsche Staaten (die auf Grund der Teilungsaffinität aller Alliierten entstanden) und Österreich. Sie gingen aber nicht „vor allem nach Westdeutschland“. Nach meiner Erkenntnis (Auswertung der „Spezialistenkartei“ des Ministeriums des Innern der DDR; Adressen der Familien der Spezialisten; persönliche Aussagen) würde ich maximal 10 % bestätigen wollen.

5) Es „beschrieb“ kaum einer der zurückkehrenden Spezialisten etwas - die meisten Rückkehrer hielten sich getreu ihrer schriftlich abgegebenen Verpflichtung aus der UdSSR, nichts von ihrer Tätigkeit zu verraten. Dieses wirkt teilweise bis heute so eindringlich nach, dass es recht schwierig ist, von noch lebenden deutschen Spezialisten etwas von damals in Erfahrung zu bringen. Die wenigen, die sich den westlichen Geheimdiensten offenbarten (mir gegenüber bestätigten dies bisher 2 Spezialisten persönlich), haben aber sicher zum „Gleichgewicht des Schreckens“ beigetragen. Sogar Helmut Gröttrup „baut“ in seinen Veröffentlichungen unrichtige Aussagen ein, die sicher dadurch begründet waren, ja kein „Geheimnis“ zu verraten und mit den „Russen“ Schwierigkeiten zu bekommen. Vielmehr scheint mir „Wut“ aus Tschertoks Zeilen darüber ins Auge zu springen, dass die Amerikaner durch die deutschen Aussagen sehr wohl begriffen, was für fortschrittliche Entwicklungen in der UdSSR durch die deutsche Hilfe liefen. Die Raketenprogramme Thor, Atlas und Titan sind unmittelbare Reaktionen auf diese „Schreckensmeldungen“ und wurden für „Antworten“ auf die sowjetischen Raumfahrterfolge weiterentwickelt. Hätte man die Deutschen länger in der UdSSR behalten - wer weiß, wie die Raumfahrtgeschichte dann verlaufen wäre...

6) Wenn Frau Gröttrup „mehr erzählte“, als Tschertok wusste, hängt das sicher an der romanhaften „Erzählung“ ihres „Tagebuchs“ zusammen. In diesem Sinne unterscheidet sich Herr Tschertok nicht sehr von Frau Gröttrup.

Soviel ich in Erfahrung bringen konnte, war Tschertok nie eingesetzter Stellvertreter von Koroljow, wohl aber von Mischin. Liest man in der russischen Literatur über Steuerungsprobleme, erwähnen die meisten Piljugin - Tschertok finde ich nicht. Wie maßgeblich Piljugin die Entwicklungsrichtung der Steuerungstechnik von Raketen bestimmte, kann vielleicht ein Beispiel verdeutlichen: Die in den letzten Kriegstagen nicht mehr zum Einsatz gekommene Kreiselplattform SG 66/70 des A4, die Piljugin in „Mitteldeutschland“ fand, perfektionierte er soweit, dass sie scheinbar noch heute im Dienst ist. Eine Steuerungsplattform moderner russischer SS-Raketen sieht der SG 66/70 verblüffend ähnlich...

Quellenangabe

/1/ RAKETEN*POST Nr. 11, Dezember 1998. Herausgeber: Przybilski

/2/ Knyschewskij, P.N.: Moskaus Beute. Olzog Verlag 1995; u.a. Seite 85

/3/ Sänger, E.: Über einen Raketenantrieb für Fernbomber. Zentrale für wissenschaftliches Berichtswesen, Berlin-Adlershof, Mitteilung Nr. 3538 der Deutschen Luftfahrt- forschungsanstalt „Ernst Udet“ in Zusammenarbeit mit Irene Bredt; 1944; g.Kdos. 4268S

/4/ Berner, Kurt: Spezialisten hinter Stacheldraht. Brandenburgisches Verlagshaus; 1990

© O. Przybilski