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Das AGGREGAT 4 – Die ursprünglichste Sünde?


Es ist mir als Techniker bis heute ein Rätsel: Warum „traktieren“ die Historiker so sehr die erste Flüssigkeitsgroßrakete, die uns den Weg zur praktischen Raumfahrt, die Erfüllung der Träume von Ziolkowski, Goddard, Esnault-Pelterie oder Oberth bescherte? Woran liegt es, dass bei der „Aufarbeitung der technischen Leistungen“ des „III. Reiches“ so sehr die Rakete in den negativen Vordergrund des Interesses gerückt wird? Was ist das Besondere am Aggregat 4, die durch Goebbelsscher Sprachschöpfung zur 2. Vergeltungswaffe werden sollte? Warum werden einzelne Personen an den Pranger gestellt, obwohl doch der Einzelne im System sich nur entfalten konnte? Wieso gipfelte die Raketenentwicklung gerade in Deutschland – war die Zeit nicht überall „reif“? Je intensiver ich mich mit der Entwicklung der Aggregatserie beschäftige, umso mehr beeindruckt mich der Forschungs-, Finanz- und Managementaufwand, der den technischen Komplex RAKETE gedeihen ließ...
Will man sich von der moralischen Seite dem Objekt näher, wird man die untergeordnete Stellung des A4 schnell erkennen. Bitte verstehen Sie mich nicht falsch – jeder Tote ist ein Toter zuviel, ob auf der einen oder anderen Seite der Front. Auch ist ein toter Zivilist sogar heute beim angeblich „sauberen Krieg“ immer und ewig eine tragische, feste „Größe“. Gestern Afghanistan und heute der Irak – vorrangig wirtschaftliche Interessen hat die Zivilbevölkerung „auszubaden“. Doch die Anzahl der durch die „V2“ getöteten Menschen liegt in der Größenordnung von 5000, etwa die dreifache Zahl starb zusätzlich bei der Herrichtung der unterirdischen Produktionsstätten im Kohnstein bzw. beim Zusammenbau der „V2“ unter SS-Aufsicht mit KZ-Häftlingen. Doch wie viele überlebten durch die Produktion der Einzelteile und der Rakete selbst oder durch die uk-Stellung in Institutionen und Forschungseinrichtungen oder wurden vom direkten (Ost-) Fronteinsatz verschont, indem sie in den Divisionen z. b. V. die Raketen verschossen? Ein weiterer „Vergleich“ scheitert schon im Ansatz: Ein USAF- oder RAF-Angriff eines Tages/einer Nacht auf deutsche Städte verbrauchte mehr Sprengstoff als alle gestarteten „V2“-Raketen zusammen und tötete die mehrfache Anzahl an Zivilisten als die Gesamttodeszahl durch die „V2“. Darf man die unschuldigen Toten beiderseits vergleichen? Oder war das gesamte deutsche Volk „schuldig“? Dann müsste die gesamte DDR-Bevölkerung mit Honecker, Mielke etc. abgeurteilt werden, was manchmal von gewissen Randgruppen hier in Deutschland gern pauschalisiert wird.
Auch der Einsatz von KZ-Häftlingen, Fremd-, Ost-, Zwangsarbeiter oder Kriegsgefangenen war „nichts besonderes“. Hier ist die gesamte deutsche Kriegsindustrie (und die öffentlichen Dienstleister, die Banken...) in die Pflicht genommen, ohne Ausnahme: Nur wer ein Produktionsangebot für irgendein Produkt abgab, hatte das Recht, zusätzliche Arbeiter zu bekommen! Mit anderen Worten: Wollte ich Profit machen, durfte ich „Hilfe“ einfordern. Außerdem: Wie konsequent die „Bestrafung“ für abgeurteilte Kriegsverbrecherfirmen ist, zeigt die beschämende Tatsache, dass sich die IG Farben heute noch „in Auflösung“ befindet...
Was kann sonst den „Zorn“ der Historiker gegenüber der Rakete, Dornberger und von Braun auf den Plan rufen? Interessant wird es, wenn man sich die Kosten des Projektes ansieht und dies in Relationen zu ähnlichen Projekten stellt. Nach unterschiedlichen Angaben soll die Errichtung der HAP in Peenemünde, die Forschungsausgaben und die laufenden Betriebskosten rund 1 Mrd. Reichsmark verschlungen haben. Dazu kommen ca. 450 Mio. RM für die Produktion der „V2“. In US$ umgerechnet bedeutet das zum damaligen Zeitpunkt etwa 750 Mio. US$ (heutiger Wert 3 Mrd. US$). Etwas mehr als das Doppelte nur investierte die weitaus stärkere US-Wirtschaft unter großen Mühen im Manhatten-Projekt zum Bau der Atombombe (an Hand dieser riesigen Summen kann man auch verstehen, dass es heute nur einer handvoll Ländern möglich ist, eigenständige Raketen- und Atomprogramme durchziehen zu können und „Schurkenstaaten“ lieber auf „Import“ reflektieren). Quintessens: Hat also das Deutsche Reich durch dieses aufwändige Raketenprogramm sich selbst auf die Verliererstraße geschoben und die Wehrmacht sogar durch Bindung der Produktionskapazitäten, „Sparstoffe“ und Fachpersonal den Krieg verkürzt? War der Sieg der Alliierten „hausgemacht“? Wurde das nicht von Speer und anderen erkannt? Oder hat, aus welchem Grund auch immer und genial getarnt, Dornberger bewusst gegen Hitler gearbeitet (in diesem Zusammenhang ist das Zitat eines SD-Führers gegenüber Dornberger in dessen Buch „V2 – Der Schuss ins Weltall“ hoch interessant: „Wissen Sie, wie dick Ihre Akte hier bei uns gegen Sie ist?“)?
Selbst die Managementmethoden bei der Projektierung - Dornbergers „Alles unter ein Dach“ - hat nach Kriegsende fast überall in den sensiblen Rüstungsbereichen Einzug gehalten. Auch die Gründung der NASA erwuchs aus der Erfordernis, mit ganzheitlicher Führung dem Weltraum-Rüstungs-Wettlauf mit der UdSSR Paroli bieten zu können. Ein adäquates demokratisches Regulativ in der Raumfahrt fehlte der UdSSR und hat auch Deutschland nicht (mehr). Die Auswirkungen kennen wir...
Es scheint, dass sich bisher kaum ein Geisteswissenschaftler intensiv mit der Technik/Technologie des Aggregat 4 vertraut gemacht hat, um detailliert nachvollziehen zu können, was für ein komplexer Schmelztiegel dutzender Wissenschaftsgebiete diese erste Großrakete darstellt. Der Technikgeschichtler reflektiert hauptsächlich gesellschaftliche Zusammenhänge und versucht aus der Aktenlage eine Ereignisfolge zusammen zu stellen. Das ist kein Vorwurf – Historiker genießen nun mal eine andere Ausbildung als Techniker, die die fachgebietsübergreifende Systemanalytik eines technischen Gebildes von der Pike auf „eingeimpft“ bekommen und technische Zusammenhänge unabhängig von Mensch und Politik wertungsfrei nachvollziehen können: Als „Saatgut“ hat diese Rakete(nwaffe) wenig Schaden angerichtet und als weltweite, aufgegangene „Frucht“ im „Gleichnis des Schreckens“ sogar einen dritten Weltkrieg verhindert. Davon bin ich überzeugt.
Was möglicherweise für viele Nichttechniker bleibt, ist „Unverständnis“. Ein „Unvermögen“ die komplizierte Technik zu begreifen, sie in der Technikgeschichte zu wichten und sich in Angriffe auf einzelne Akteure zu beschränken, in einer modernen Maschinenstürmerei sich auszutoben und in der konzentrierten Attacke auf die A4 die anderen vielen Millionen Kriegstote zu beleidigen. Blumige Feststellungen, die an niedere Instinkte appellieren, wie „Es ist sicher, dass diese Rakete noch sehr lange die Last der ursprünglichsten Sünde tragen wird“ (Jacques Villain; Präsident der Historischen Kommission der französischen AAAF) vermögen nur eins erreichen: Selbstprofilierung durch Verunglimpfung der genialen Leistungen der in alle Welt zerstreuten Raketen-Experten, die die Alliierten erst Jahre nach Kriegsende, wenn überhaupt, nachvollziehen konnten!
Und schließlich noch ein Hinweis: Nehmen Sie bitte nicht den propagandistischen Sprachwortschatz der alten und neuen Meinungsmacher an! „V2“ stammt aus der Goebbelsschen Demagogiemaschinerie. Eine Benutzung dieser „Agitatorwörter“ ist förmlich eine Identifizierung mit deren Inhalten. Die Rakete hieß AGGREAGT 4 in der Entwicklung, in der Produktion, beim Einsatz. Wir wollen doch technisch exakt und sachlich bleiben...







Eine Akte aus dem Sächsischen Staatsarchiv (Sachsenwerk Signatur A391) zeigt exemplarisch die „Schuld“ aller an der „Arbeitskräfte-Zuweisung“.
 

Der Peenemünder Insider Krafft A. Ehricke verdeutlich in einem Aufsatz („Rocketscience, March 1950, Vol. 4, No. 1) die enormen Kosten beim Aufbau der ersten Raketenentwicklungseinrichtung.